Hin und wieder staune ich, wie unterschiedlich ich heute mein Leben als Nachfolger Christi erlebe, verglichen mit beispielsweise vor zehn Jahren. Letzten Sonntag wurde es mir einmal mehr bewusst.
Ich stand im Chorgewand mit einer violetten Fastenschärpe auf der Empore unserer Kirche, in Reichweite hunderter silberner Orgelpfeifen, mit Blick auf die wunderschönen Fenster und die gewölbte, kunstvoll bemalte Decke der Kathedrale. Der Altarraum unter uns war vom Morgenlicht durchflutet, das durch die Buntglasfenster auf allen vier Seiten der Kirche fiel.
Mein Herz war schwer. Seit einem Monat bete ich für das Volk und die Führer der Ukraine sowie für die unzähligen russischen Soldaten und Zivilisten, die sich diesen Krieg nicht ausgesucht haben. Einen Monat lang hörte ich herzzerreißende Geschichten über Angst, Verlust und Schmerz von Menschen, die genauso sind wie wir. Es war ein Monat voller unbeantworteter Fragen, wie zum Beispiel: Warum? Wie lange noch? Und wie siehst denn Du das, Gott? how do You see this, God?
Unser Pfarrer betete für die Menschen in der Ukraine, und seine Gebete drückten die gleiche Hilflosigkeit aus, die seine Gemeindemitglieder empfanden. Dann war es Zeit für unseren Chor zu singen. Ave Verum Corpus, in Mozarts ergreifender Version. Ich schaffte es fast bis zum Ende, bevor meine Tränen die Musik so sehr verwischten, dass ich keine Noten mehr erkennen konnte. Die Schönheit der Musik traf den Schmerz in meinem Herzen mit seltsamer Harmonie. Der mittelalterliche Text spricht vom Leiden Christi am Kreuz und seiner erlösenden Bedeutung für das Leben derer, die ihm nachfolgen. Und er scheint sich als eine geheimnisvolle „Antwort“ auf meine stillen Fragen zu erweisen.
In diesen Zeiten des Krieges wird deutlicher denn je, dass in der menschlichen Erfahrung Freude und Schmerz, Liebe und Leid miteinander verbunden sind. Es gibt kein Schwarz und Weiss. Diese Erfahrungen gehören zusammen, und sie sind auf eine Weise miteinander verbunden, die sich selbst dem eifrigsten Streben nach "Wahrheit" letztlich entzieht. Freude und Schmerz, Liebe und Leid verkörpern das, was Theologen das Mysterium Christi nennen.
Es ist dies das Mysterium, das Geheimnis eines Gottes, der sich dazu entschloss, die Welt nicht in Ordnung zu bringen, indem er das Böse auslöscht und alle unter seine Herrschaft zwingt. Die Versuchung an jenem Tag in der Wüste war realistisch: "Ich will dir alle Reiche der Welt geben." Es war dies nicht nur eine Aufforderung zu herrschen, sondern alles in Ordnung zu bringen. Satan sagte: Ich gebe dir die Chance, alles Leid und Unrecht zu beenden und eine perfekte Welt zu schaffen, in der du für immer Herrscher sein wirst.
Aber Jesus wusste, dass selbst ein richtiges Ziel, wenn es auf die falsche Weise erreicht wird, zu einem falschen Ziel wird. Und deshalb, anstatt von einem irdischen Thron aus mit großer Fanfare zu regieren, entschied sich Gott, vom Kreuz aus mit großem Schmerz zu regieren - indem er unser Leid teilte, unseren Schmerz sah und mit uns in unsere Dunkelheit kam. Noch zweitausend Jahre später entzieht sich dies unserem Verstand. Es wäre doch so viel einfacher, die Rebellion und Grausamkeit der Menschheit mit einem so genannten "Akt Gottes" zu beenden. Ein simpler Herzinfarkt für einen bestimmten derzeitigen Spitzenpolitiker würde doch genügen. Die "Guten" beschützen und die "Bösen" bestrafen. Warum nicht, Gott?
Die Schreiber der Psalmen befanden sich in der gleichen Zwickmühle wie wir heute. Wie viele Psalmen flehen Gott an, die Feinde Israels zu bestrafen und zu vernichten und sein eigenes Volk zu segnen? Oft beklagt der Verfasser desselben Psalms dann die Tatsache, dass die Bösen in Wirklichkeit oft Erfolg haben und ihre Pläne in Erfüllung gehen. Selbst Jesus sagte, dass der Vater im Himmel seine Sonne über Bösen und Guten aufgehen lässt und Regen über Gerechte und Ungerechte schickt. Er sagt dies übrigens, nachdem er seinen Nachfolgern befohlen hat, ihre Feinde zu lieben.
Es ist klar, dass Gottes Wege uns heute genauso verwirren, wie sie es damals mit den Kindern Israels taten. Es beleidigt unsere Idee von Gerechtigkeit. Und doch - sind wir nicht froh, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse nicht allzu eng gezogen sind? So sehr wir uns auch wünschen, dass grausame Kriegsverbrecher bestraft werden, wollen wir wirklich Gerechtigkeit in den Bereichen unseres eigenen Lebens, in denen wir anderen wissentlich oder unwissentlich Unrecht getan haben? Wissen wir nicht alle intuitiv, dass wir täglich der Vergebung Gottes bedürfen, nicht nur Seiner Gerechtigkeit?
Es scheint, dass das Kreuz für das moderne Christentum eine fast so große Beleidigung darstellt wie für die Anhänger anderer Religionen. Der Wunsch, Christus vom Kreuz zu entfernen, ist ein wesentlicher Faktor geistlicher Armut. Die evangelikale Kultur, zu der ich viele Jahre lang gehörte, kann den Anblick eines leidenden Christus nicht ertragen - zumindest nicht über ein paar Minuten in einem Passionsspiel hinaus, gefolgt von der grandiosen Auferstehungserzählung eines triumphierenden Christus. Wir wollen den Sieg. Wohlergehen. Einfluss. Namen von amerikanischen Kirchen wie Overcomers, Church of the Triumphant oder Victory Church bringen ein Bedürfnis zum Ausdruck – nämlich, die Aufmerksamkeit von mitleidender Liebe weg und zu etwas hin zu lenken, das mehr an Werbung für nationalistische Politik erinnert.
Früher habe ich mich verächtlich über die Kruzifixe, die ich aus der katholischen Kirche meiner Kindheit kannte, geäußert. "Haben die den Ostersonntag vergessen?", spotteten wir Evangelikalen, die wir stolz unsere leeren Kreuze trugen. Herr, erbarme dich.
“Easter Sunday without Good Friday is not only shallow, it’s dangerous.“
In Wirklichkeit hat sich das so genannte moderne Christentum in eine eindimensionale Angelegenheit verwandelt, die mehr versäumt, als sie sich jemals vorstellen könnte. Ein Ostersonntag ohne Karfreitag ist nicht nur oberflächlich, er ist gefährlich. Wenn wir nur den siegreichen Christus sehen wollen, sehnen wir uns auch nach nur siegreichen Erfahrungen als Christen. Das bedeutet, dass wir unseren Schmerz und unser Leid begraben und verleugnen - etwas, das ich in modernen christlichen Kreisen häufig erlebt habe.
Das Problem ist, dass Schmerz, der nicht vollständig erlebt und geteilt werden kann, in Bitterkeit und Hass umschlägt. Deshalb folgt heutzutage in vielen amerikanischen Kirchen auf ein halbherziges Gebet für den Frieden schnell eine patriotische, politische Predigt gegen die Übel des Kommunismus oder den geistlichen Krieg zwischen Ost und West. Es gibt keine Tränen. Kein Kummer. Keine Eingeständnisse der Hilflosigkeit. Nichts als ein oberflächliches Bedürfnis nach einem fröhlichen, pragmatischen Ostersonntag – unter Ausschluss des tiefen Geheimnisses von Karfreitag.
Ich habe eingangs gesagt, dass ich zuweilen über den Unterschied in meiner christlichen Erfahrung im Laufe der Jahre staune. Heute weine ich über die Ukraine. Ich habe keine Antworten. Weder in geistlicher noch in praktischer Hinsicht. Stattdessen lasse ich mein Herz die mitleidende Liebe Christi am Kreuz erfahren, wie er die Grausamkeit der römischen Nägel damals und die Bomben Putins heute in seinen Leib aufnimmt. Liturgie und Schönheit helfen mir, meinen Schmerz nicht in Hass umzuwandeln, sondern mir die Gebrochenheit dieser Welt und die Notwendigkeit erlösender Liebe bewusst zu machen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Er durch solche Ungerechtigkeit lieben kann, aber ich wünsche mir, es Ihm gleichzutun.
Ich wünsche es mir, weil ich weiß, dass nur der Weg des Kreuzes allein die Welt retten wird.
Liberty Culture says
Without the resurrection, our faith is in vain. Thank God for he who suffered for us. Praise to God who defeated death and sin.
judichri says
Liebe Judith
Danke für deine sehr guten Worte! Auch Lino hat sich lobend geäussert über deine Gedanken. Mir gefällt es, dass du für all die Ungerechtigkeiten keine Antwort hast. Der allerletzte Satz ist allerdings eine Art Antwort: Was Jesus erlitten hat, wird die Welt retten.
Ich wünsche euch ein schönes Wochenende! Seid alle herzlich gegrüsst von
Omi
chattingaboutgod says
I think about about Isaiah 53 and Psalm 22…
Keep your eyes on the risen Lord Jesus Christ… who paid our debt that we could never pay,
“being therefore justified faith we have peace with God , through our Lord Jesus Christ ( Romans 5:1 ) also 1 Corinthians 15:1-4…
God Bless you in the name of the risen LORD Jesus Christ,
Dave