Ich kehrte kürzlich von einer Retraite im Rocky Mountain National Park zurück, an der Autor und Pastor Brian Zahnd, seine Frau Peri und etwa sechzig Teilnehmer aus den ganzen USA teilnahmen. Die Landschaft war wunderschön, die Lehre inspirierend und die Gespräche tief und bewegend. Doch was mich am nachhaltigsten bewegte, kam aus einer unerwarteten Quelle: der Liturgie.
Ich war mit Brians Morgenliturgie bereits vertraut, da ich mehrere seiner Gebetsseminare besucht und einen Großteil dieser Liturgie in meine eigene tägliche Andacht integriert hatte. Die Liturgie besteht aus uralten Gebeten, die von Christen aller Konfessionen auf der ganzen Welt seit fast zweitausend Jahren milliardenfach gebetet werden. Es sind Zusammenstellungen alter Texte, die unsere Hoffnung, unseren Glauben und unsere Liebe zu Gott zum Ausdruck bringen.
Doch während seiner Retraite in den Bergen fügte Brian diesmal auch eine Abendliturgie hinzu. Teile dieser zweiten Liturgie waren mir nicht vertraut, da sie aus der östlich-orthodoxen Tradition stammten. Und obwohl ich mich anfangs etwas unwohl fühlte (Misstrauen gegenüber dem Unbekannten stirbt nur langsam), spürte ich schon nach wenigen Tagen, dass diese Worte eine tiefere Wirkung auf mich hatten, als ich mir das hätte vorstellen können.
Das Kernstück dieser bestimmten Liturgie war das Wort Erbarmen. Überall im Text wurde die Notwendigkeit der Barmherzigkeit hervorgehoben, wiederholt und betont. Und während natürlich alle Christen auf der ganzen Welt dieses Wort kennen, ist dessen Hervorhebung eher ungewohnt. Eine Stelle der Liturgie wiederholt den Satz "Herr, erbarme dich" gleich zwölfmal:
Herr, erbarme dich.
Herr, erbarme dich.
Herr, erbarme dich.
Herr, erbarme dich.
Herr, erbarme dich.
Herr, erbarme dich.
Herr, erbarme dich.
Herr, erbarme dich.
Herr, erbarme dich.
Herr, erbarme dich.
Herr, erbarme dich.
Herr, erbarme dich.
Beim ersten Lesen kommt ein unangenehmes Gefühl auf – eine Erinnerung vielleicht an die stumpfsinnigen Übungen, die mein Lehrer in der zweiten Klasse anordnete: "Schreibe zwanzig Mal 'Ich werde nicht mehr vergessen, meine Hausaufgaben abzugeben'".
Aber nach ein paar Tagen wich das Unbehagen über die scheinbar sinnlose Wiederholung einer unerwarteten Entspannung in mir. Am Ende der Woche freute ich mich auf genau diese Worte besonders, denn mir dämmerte, dass die Bitte um Barmherzigkeit - sowohl für mich als auch für die ganze Welt - ein schöneres, hilfreicheres, ehrlicheres Gebet ist als die meisten Gebete, die mir selbst einfallen würden. Eine Bitte um Barmherzigkeit zeigt, dass ich nicht am Steuer sitze. Es ist ein Eingeständnis, dass ich täglich Hilfe brauche. Es ist die Erkenntnis, dass ich, wenn ich tief in meine Seele und mein Herz schaue, zerbrochen und verletzlich bin.
Wir sind uns im modernen christlichen Leben gewöhnt, anderes zu singen, lesen oder hören. Wir verkünden das Leben, den Sieg, die Freude, die Ganzheit und den Frieden. Und obwohl all dies Teil von Gottes Verheißung für uns ist, lässt es die tiefsten Realitäten unserer menschlichen Erfahrung außer Acht. Es ist unsere Zerbrochenheit, nicht Gottes Sieg über sie, die uns zutiefst menschlich macht. Es ist unsere Verletzlichkeit, nicht Gottes Stärke, die uns mit anderen Menschen verbindet. Und es ist unsere Abhängigkeit von Gottes Barmherzigkeit, nicht Seiner Gerechtigkeit, die uns befähigt, dem verlorenen und schwachen Nächsten um uns herum Barmherzigkeit und Mitgefühl entgegenzubringen.
Ich fange gerade erst an, dies zu erforschen, fasziniert unter anderem von Podcasts und Artikeln von Dr. Brad Jersak, einem kanadischen Professor, der als Baptist aufgewachsen ist, aber später im Leben ein aktives Mitglied einer orthodoxen Gemeinde in Kanada wurde. Ihm zufolge besteht einer der Unterschiede zwischen den östlichen und westlichen Kirchen darin, dass viele moderne Kirchen das Christentum als einen Gerichtssaal sehen, in dem Jesus uns vor der gerechten Strafe für unsere Sünden (und dem drohenden Zorn Gottes) rettet. Die östliche Theologie versteht das Christentum eher als ein Krankenhaus, in dem Jesus uns von den tödlichen Wunden unserer Selbstsucht, Gier, Grausamkeit und unseres Stolzes heilt. Es sollte uns daher nicht überraschen, dass die orthodoxe Theologie ihren Schwerpunkt auf die Barmherzigkeit und nicht auf die Gerechtigkeit, auf die Liebe und nicht auf die Wahrheit legt – in der Erkenntnis, dass die höchste Form der Gerechtigkeit schlussendlich Barmherzigkeit, und die höchste Form der Wahrheit schlussendlich Liebe ist.
Letzten Endes finden meine tiefsten, lebensverändernden Begegnungen mit Gott nicht statt, wenn ich über meine Gerechtigkeit in Christus, meinen Sieg über den Teufel oder meine Freude als Kind Gottes nachdenke (was alles wichtige Wahrheiten sind). Sie finden vielmehr statt, wenn ich die Barmherzigkeit Gottes betrachte, die er meinem verlorenen Selbst in der Dunkelheit, die ich selbst geschaffen habe, entgegenbringt. Wenn ich die bedingungslose Liebe betrachte, die sich über die zerbrochene, verängstigte, verletzliche Realität hinter meiner starken und unabhängigen Maske ergießt. Und wenn ich an die durchbohrten Hände eines mitleidenden Erlösers denke, der sich zu mir herabbeugt, um mich zu verstehen, um mich und den Rest der Menschheit in unserem gegenwärtigen Leiden zu begleiten. In diesen Momenten wird Gott für mich wirklich real, wird das Christentum wirklich bestechend und wird die Nachfolge Jesu in ihrer reinsten Form erst wirklich möglich.
Thank you for sharing your experience. My current church position will not allow me to participate in one of the prayer retreats. I will use the evening liturgy today. I was confused about the line, “understanding that the highest form or justice is mercy, and the highest form or truth is love.” Is the word, “or,” supposed to be, “of?” You may email me at revkellyanderson@yahoo.com.
Liebe Judith
Das ist harte Kost. Ich werde deine Worte noch länger überdenken müssen, sicher können wir an Weihnachten darüber reden.
Vielen Dank für die Post und liebe Grüsse
Mami
Ich freue mich darauf!
It’s a small world. My wife and I were at the retreat with you and David. We hiked with you to Mills Lake. I agree that the liturgy as a group was impactful, especially the mornings outside with God’s beautiful creation on display. Thanks for sharing your experience.
Hi Eric! It’s a small world indeed! I headed over to your blog and was touched by your posts – what you’re saying is so profound and impactful. Thank you for your work. Looking forward to connect more – maybe at another event with Brian and Peri!