Vor Kurzem erlebte ich mit nun bereits zum fünften Mal (auf mehrere Jahrzehnte verteilt) das atemberaubende Musical „Les Misérables“, diesmal in Zürich. Berührt und begeistert kam ich nach Hause – und hätte es besser wissen sollen, als meinen Teenagern von einem Werk mit dem Namen „Les Misérables“ vorzuschwärmen. Die Antwort meiner Vierzehnjährigen kam dann auch prompt: „Wow. Ein Musical mit dem Titel „Die Elenden“ – genau das hat mir noch gefehlt.“ Meinem Einwand, dass ich bereits als Kantonsschülerin zutiefst von diesem Werk berührt war, begegnete sie entsprechend mit: „Ein weiterer Beweis dafür, dass du schon immer uralt warst“.
Kaum ein Werk hat eine so vielfältige Fangemeinde – von „philosophisches Meisterwerk des 19. Jahrhunderts“ über „Historien-Epos der Aufklärung“ bis hin zu „Klassischste Liebesgeschichte überhaupt“. Doch als ich „Les Misérables“ als 20-Jährige das erste Mal las, war ich aus einem anderen Grund zutiefst betroffen. Mir widerfuhr, wie die Barmherzigkeit Gottes die menschliche Seele ergreift wie nichts anderes auf dieser Welt.
Valjean – der tragische, innerlich zerrissene Held der Geschichte – erlebt diese Barmherzigkeit in Form eines Bischofs, der ihm nach einem Raubüberfall vergibt, statt ihn zurück auf die Galeeren zu schicken, wo er für das Verbrechen eines gestohlenen Laib Brotes die vergangenen neunzehn Jahre verbracht hat. Doch damit nicht genug: vor den verblüfften Polizisten beteuert der Bischof, Valjean die Sachen geschenkt zu haben. „Aber warum hast du die Kerzenleuchter vergessen?“, fragt er den Sträfling und häuft weitere Wertsachen in dessen Beutel. Als ob das gestohlene und nun geschenkte Silber noch nicht genügt, um die Tragweite dessen, was Valjean an diesem Tag lernen wird, zu unterstreichen.
Ungeheuerlich ist es, was der Bischof da tut. Valjean braucht das halbe Buch, um mit dieser maßlosen Barmherzigkeit des Bischofs zurechtzukommen. Und ich bin froh um diese Zeit – denn ich selbst spüre beim Lesen: Kein Mensch, ob Protagonist oder Leser, erfährt solch ungeheuerliche Gnade, ohne im Innersten erschüttert zu werden.
Ob wir innerlich oder äußerlich gefangen sind, unsere Seele streckt sich nach dieser Barmherzigkeit aus, und die Frage verschafft sich Raum: „Kann, ja wird diese Gnade auch mein Leben überwältigen?“ Die Antwort kam zu mir, leise und froh: „Sie kann und hat bereits – seit du dem Wanderprediger aus Nazareth folgst und dein Herz in die Hände eines verschwenderisch-barmherzigen Gottes gelegt hast.“
Der Rest des Romans folgt einem Leben, das den unauslöschlichen Abdruck Gottes trägt. Valjean hilft, rettet, liebt, und gibt sich Gott mit einer Intensität hin, die durch die vergilbten Seiten meiner Hugo-Ausgabe leuchtet. Mit immerwährender Dringlichkeit scheint er, der solche Barmherzigkeit erfahren hat, diese weitergeben zu müssen. Nicht als eine Form der Wiedergutmachung oder der „ausgleichenden Gerechtigkeit“. Nein, Valjeans Intensität entspringt vielmehr einer kaum mehr bekannten Selbstvergessenheit. Und hier offenbart sich ein großer Gegensatz zwischen Victor Hugos Helden und unserem modernen Christsein.
Valjean besitzt nichts von der selbstsicheren Art moderner Christen, die sich ihrer selbst und ihrer Werke nur zu bewusst sind. Er lebt auch nicht wie jemand, der seine Schuld abarbeitet, um eines Tages vor Gott gerecht zu stehen. Vielmehr besteht sein Leben aus diesem Glühen, das auch die Geschichten vieler Heiligen charakterisiert: Dieser unablässige, hingebungsvolle und doch fröhlich-leichte Drang, für andere zu leben. Valjean hat gleichzeitig nichts zu verlieren und unendlich viel zu geben.Er ist unablässig an der Arbeit und doch vollkommen in der Ruhe. Sein Leben hat diese Qualität angenommen, die wir leider in unserer modernen Zeit zu oft mit Erfolg verwechseln. Doch kein Wort wäre diesem Gott-Zustand ferner als dieser so weltliche und pragmatische Begriff.
Valjean verwirklicht sich nicht selbst; er hat sich in einer viel größeren Freude verloren. Er hat keine Erfolge zu verzeichnen, sondern steht den Segnungen, die seinem Wirken entspringen, mit seltsamer Distanz und Überraschung entgegen. Sie sich selbst zuzuschreiben, wäre für ihn ein lächerlicher und lästiger Gedanke.
So nennt er sich bis zum Lebensende selbst ein „Elender“. Das hat nichts mit Selbstmitleid oder falscher Demut zu tun. Vielmehr beschreibt er damit seine und unsere Position auf der Bühne dieser Welt – einer Welt, die so voller Zerbruch ist, dass auch der Fleißigste und Aufrichtigste unter uns sich ihrer Tragik nicht entziehen kann. Er imitiert Paulus, der sich selbst mit Nachdruck und Freude, wohl gar mit Erleichterung, den „Geringsten aller Nachfolger Christi“ nennt.
Ich verstehe gut, dass meine Teenager von einem Werk mit einem solchen Titel abgeschreckt werden. „Die Glücklichen“ oder „die Trendsetter“ wäre Insta-würdiger als „die Elenden“. Und wie soll ich ihnen erklären, dass dieser Mann, der sich wie Paulus oder Franziskus als „Narr“ sah, der Welt mehr von Gott gezeigt hat, als das eine Berühmtheit je könnte? Dass er sich einreiht mit solchen, die mit ihrer Selbstvergessenheit die Welt auf den Kopf gestellt haben?
Vielleicht ist „Les Misérables“ ein weiteres Beispiel dafür, wie gewisse Wahrheiten am besten durch die Künste weitergegeben werden können. Die Kunst berührt unserer Seele auf leise, tiefgründige und oft unerwartete Art. Und vielleicht schreibt, vertont, malt, inszeniert ja bald jemand ein „Les Misérables“ für die Generation meiner Teenager; ein Werk, in dem in heutiger Form ausgedrückt wird, wonach sich auch moderne Seelen genauso sehnen. Vielleicht finden wir neue Formen, um in den „Elenden“ unserer Zeit wieder die wahren Helden zu entdecken.
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